24. Kapitel
Dein Vater war ein wundervoller Mann, und er hätte dich sicher sehr geliebt.« Lady D. tat ein paar Teelöffel eines weißen Pulvers in die mit Wasser gefüllte Schüssel. »Wenn er nicht gestorben wäre.«
Violet stockte der Atem. Ihr Glücksgefühl war wie fortgeblasen. Sie hatte ihren Vater zwar noch nie gesehen, aber sie hatte dennoch eine ganz genaue Vorstellung von ihm. Er war groß und stark, und er liebte Violet... und nun sollte er auf einmal tot sein.
»Wie ... wie ist er denn ge-gestorben, M-Mutter?«
Lady D. rührte nachdenklich das mit dem Pulver versetzte Wasser um. Dann hob sie ihren Blick. In ihren Augen loderte glühender Hass. »Er wurde von einem Mann namens Ismail getötet. Aber er wird dafür büßen! Und du auch, du dreckige kleine Schnüfflerin! Mir nachzuspionieren! Dachtest du etwa, du würdest ungestraft davonkommen ?!«
Violet sprang erschrocken vom Stuhl, aber Lady D. war schneller. Sie packte das Mädchen bei den Haaren und tauchte ihren Kopf in die Schüssel. Es brannte! Das Wasser verbrannte ihre Augen! Violet wehrte sich vergeblich. Bess schlug scheppernd auf dem Boden auf, während sie versuchte, die Fingernägel in die Hände ihrer Mutter zu schlagen.
»Du widerliches kleines Dreckstück!« Lady D. drückte wutentbrannt das Gesicht der Kleinen noch tiefer unter Wasser. »Teufelsbrut! Dafür kannst du dich bei Ismail bedanken! Bei Ismail bedanken ! Bei Ismail bedanken !«
Neiiiin!
Violet fuhr mit wild klopfendem Herzen aus dem Schlaf und umklammerte den Ring, den sie an einer Kette um den Hals trug. Das kühle Metall beruhigte sie, dennoch vergingen ein paar Minuten, ehe ihr bewusst wurde, wo sie sich befand.
Patrick. Allein der Gedanke an ihn wirkte beruhigend. Sie wünschte, er wäre hier, um sie in seine starken Arme zu nehmen und die finsteren Schatten zu vertreiben.
Mein Gott, wann hatte sie angefangen so zu denken? Sie durfte nicht vergessen, warum sie hier war. Patrick war Ismails bester Freund. Ismail musste büßen...
Verträumt dachte sie an heute früh. Patrick hatte gefragt, ob sie am Abend mit ihm speisen würde - sie beide ganz allein. Er hatte ihr einen zärtlichen Kuss gegeben.
Bei dem Gedanken daran wurde ihr... ja, was?
Er war ein wundervoller Mann, aber sie hatte bei ihm keine Zukunft. Sie war seine Mätresse. Was dachte sie sich eigentlich?
»Miss?«, kam es scharf durch die Tür.
Violet versuchte, nicht zusammenzuzucken. Mrs. Devon klang wieder einmal, als hätte sie in eine besonders saure Zitrone gebissen. Was wollte die Haushälterin?
»Ja?«, rief sie, nachdem sie sich geräuspert hatte.
»Prinzessin Belanow und ihr Bruder warten unten auf Sie, Miss.«
Mein Gott, die beiden hatte sie ganz vergessen! Was würden sie jetzt sagen? Woher wussten sie überhaupt, dass sie hier war? Und wo war Patrick?
Violet sprang aus dem Bett und orientierte sich mit ihrer Nase, während sie nach ihren Kleidern suchte.
»Danke, Mrs. Devon. Wissen Sie, wo Patrick ist?«
»Mylord ist schon vor Stunden ausgegangen«, presste die Haushälterin hervor.
Violet hätte ihr gerne gedankt, doch ihre Schritte verklangen bereits. Sie hatte das Gefühl, dass sie diesen Hausdrachen wohl nicht so schnell zähmen würde.
Seufzend knöpfte sie ihre Bluse zu und strich ihr Haar glatt, das ihr ein versäumtes Kämmen schon mal verzieh.
Kurz darauf schritt sie die Treppe hinunter und ging zum Salon. Sie roch Angelicas Rosenwasser und Mikhails Tabak- und Portgeruch. Er musste bereits am Morgen in seinem Club gewesen sein.
Warum schämte sie sich so? Es war doch natürlich, eine solche Gelegenheit zu ergreifen, oder? Bestimmt würden sie es auch so sehen. Was Violet allerdings Sorgen bereitete, war, ob sie glauben würden, dass sie so etwas immer machte. Dabei hatte sie Patrick nur nachgegeben, um an Ismail heranzukommen.
Nun, es blieb ihr nichts weiter übrig, als es hinter sich zu bringen. Sie drückte die Tür auf und betrat den Salon.
»Violet!« Angelica kam mit raschelnden Röcken auf sie zugelaufen. »Ich konnte es kaum glauben, als Mrs. Devon sagte, dass du hier bist! Was machst du hier?«
Violet suchte nach Worten; eine verlegende Stille machte sich breit. Kopf hoch, dachte sie, es gibt nichts, wofür du dich schämen musst. Die Sitten der feinen Gesellschaft gehen dich nichts an.
»Ich habe hier übernachtet«, antwortete sie schlicht.
Geschocktes Schweigen.
»Wenn er dir wehtut, bring ich ihn um«, verkündete Mikhail unheilvoll.
»Nur, wenn du schneller bist als ich«, sagte Angelica zornig. »Er wird es nicht wagen - nicht, nachdem ich ihn mir vorgeknöpft habe!«
Violet war verblüfft. Eine solche Reaktion hätte sie nicht erwartet.
Auf einmal wurde ihr ganz warm ums Herz.
»Ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte sie bewegt.
»Ach, das wissen wir doch«, versicherte Angelica und ergriff Violets Hand, »wir wollen doch nur dafür sorgen, dass du nicht auf dich selbst aufpassen musst!«
»Manches, was Angelica sagt, ergibt durchaus Sinn«, bemerkte Mikhail trocken, »wenn es auch nicht oft vorkommt.«
Violet musste gegen ihren Willen lachen.
»Sehr witzig, Mikhail«, schnaubte Angelica. »Ach ja, wir sind nur gekommen, um Patrick zu fragen, ob er etwas Neues von meinem Mann gehört hat. Danach wollten wir uns ein paar Kleider ansehen. Das ist also dein Glückstag, Violet!«
»Mein Glückstag?«, fragte Violet verwundert.
»Ja! Du kommst mit!«
Violet hörte, wie Angelica in die Hände klatschte und Mikhail zustimmend brummte.
»Angelica, ich kann doch nicht...«
»Klar kannst du. Ich will meiner Freundin ein Kleid kaufen. Das kannst du mir nicht verwehren, ich bin schwanger!«
»Was hat das mit Kleidern zu tun?«, fragte Violet lachend. Eigentlich hatte sie große Lust mitzukommen, obwohl sie sich bisher nie viel aus Kleidern gemacht hatte. Aber es wäre schön, eins für das Dinner mit Patrick zu haben ... Moment mal. Was dachte sie sich eigentlich? Sie hatte Wichtigeres zu tun! Doch sie konnte im Moment ohnehin nichts in Bezug auf Ismail unternehmen. Sie hatte erfahren, dass er verreist war und erst zum Ball des Herzogs von Neville wieder zurück sein würde.
Warum sollte sie sich also nicht einen schönen Tag machen?
»Violet, wenn ich du wäre, ich würde lieber gleich nachgeben«, flüsterte Mikhail ihr zu, »glaub mir, du wirst so oder so mit uns kommen.«
Angelica zog Violet zur Tür. »Komm schon. Mein Bruder ist zwar im Allgemeinen nicht besonders helle, aber manchmal hat sogar er einen lichten Moment.«